Die die Säule krönende Figur des offensichtlich als Jupiter dargestellten Taran, des keltischen Radgottes, deutet jedoch an, dass vielleicht auch die anderen Gottheiten romanisierte keltische Götter verkörpern könnten.
Die keltischen Seher achteten sehr genau auf die regionalen Verschiedenheiten der Natur, mit der die Götter eins sind und in denen sie sich auch verschieden zeigen. Daher riefen sie die Götter unter zahllosen – bekannt sind 374 – Namen an, von denen die Mehrzahl regional verschiedene Erscheinungsformen derselben Gottheiten bezeichnen.
Zudem drückten die Druiden Geheimnis und Unendlichkeit des Göttlichen durch größtmögliche mythische Vielfalt, Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit aus. Jede keltische Gottheit hat daher eine Vielzahl von Gestalten, die oft in Dreiheiten verbunden sind, oft aber auch allein stehen. Das macht ein „systematisches” Verständnis nach römischem Vorbild unmöglich: Allein für den römischen Mars finden sich auf Inschriften 69 verschiedene keltische Entsprechungen. Diese Eigenart erleichterte aber vermutlich auch die Romanisierung der keltischen Götter - wenn jeder Gott sowieso verschiedene Namen trägt, dann kann er auch ohne Probleme eine römische Bezeichnung tragen! Sehr weit verbreitet war das keltische Konzept eines "Himmelsgottes", der später häufig mit dem römischen Jupiter gleichgesetzt wurde. Der bekannteste Himmelsgott ist Taranis, Gott des Himmels, des Wetters und des Donners. Taranis Attribut ist das Rad als Zeichen für die Sonne, die er ebenfalls beherrscht und der Donnerkeil, mit dem er das Wetter regelt. Die keltischen Jupiter-Gigantensäulen deuten zusätzlich auf einen Mythos hin, in dem der keltische Gott Taranis gegen erdgeborene Riesen kämpfte.
Besonders verbreitet bei den Kelten war die Verehrung eines Kriegsgottes. Unter den zahlreichen Namen wird Teutates am häufgsten genannt. Dieser keltische Kriegsgott wurde zumeist als bewaffneter, behelmter Krieger mit Speer und Schild dargestellt. Von den Römern wurde Teutates zumeist mit Mars gleichgesetzt. Der römische Kriegsgott Mars stand, als Stammvater der Römer verehrt, gleich nach Jupiter in der Rangfolge der Götter, steht also wie Teutates an wichtiger Stelle im Götterhimmel und wird mit den gleichen Attributen dargestellt.
Dieser offensichtlich bedeutende Gott wird auf unserem Stein neben die eher untergeordneten Göttinnen Proserpina und Victoria gestellt. Diese Bewertung ändert sich jedoch, wenn man die keltischen Gottheiten zuordnet: Die keltische Totengöttin, die hier mit der römischen Proserpina gleichgesetzt wird, verkörperte bei den Kelten das Konzept einer großen Götterkönigin oder Muttergottheit. Dargestellt wurde diese wohl zumeist thronend und Gaben im Schoß haltend. Zwei überlieferte Namen solcher Göttinnen sind die keltiberische Adaegina sowie die in Süddeutschland und dem Donaugebiet verehrte Aericura. Auch Proserpina verkörpert die Fruchtbarkeit, wenn sie nach vier Monaten Gefangenschaft im Hades für acht Monate in die Oberwelt aufsteigen darf, so dass auch hier von einer Übertragung der Eigenschaften und Bedeutsamkeit der keltischen auf die römische Todesgöttin ausgegangen werden kann und somit die Bedeutung von einer eher zweitrangigen im römischen auf eine sehr wichtige Gottheit im keltischen Glaubensbereich gesteigert wurde.
Ähnliches gilt für die Darstellung der Victoria. Eine sehr weit verbreitete Vorstellung der Kelten war die einer weiblichen Schlachtengottheit; überlieferte Namen sind Cassibodua, Andraste oder Andarta. Zumeist wurde die Schlachtengöttin in Gestalt einer bewaffneten kriegerischen Frau mit Schild, Speer und Helm verehrt. Besonders hervorzuheben ist auch die keltische Göttin des Landes und des Stammes. Häufig galten solche Göttinnen als Mütter des nach ihnen benannten Stammes oder Verkörperung eines speziellen Gebietes. Die Funktion der Landesgöttin konnte sich - wie auch die des Stammesgottes - sehr oft mit der anderer Gottheiten wie der Schlachtengöttin überschneiden.
Auch die weiteren dargestellten Gottheiten erweisen sich bei näherer Betrachtung als Hauptgötter der keltischen Religion: Statt Vulkan, dem Schutzgott der Schmiede kann der keltische „Gott der Wege“ Esus dargestellt worden sein. Der Gott Esus wurde häufig als bärtiger Mann, der einen Baum fällt, gezeigt. Laut Cäsar war der Gott der Wege der wichtigste Gott der Gallier, Beschützer des Handels und Erfinder aller Künste.
Die Darstellung des Herkules mit seiner Keule zeigt vermutlich den keltischen Gott der Kraft und Stärke. Darstellungen eines riesigen, kahlköpfigen Mannes mit gewaltiger Keule oder Knüppel wurden recht häufig in Gallien und Britannien entdeckt. Ein keltischer Name für diese Gottheit ist nicht überliefert.
Das Relief der Minerva könnte auch die keltische Göttin des Lichts, als weibliches Gegenstück zum männlichen Lichtgott zeigen. Diese Göttin wurde als Göttin von Handwerk und Künsten aber auch des Feuers von den Römern mit Minerva identifiziert. Der keltische Name der Göttin „Sulis“, der mit dem römischen Sol und der germanischen Sól verwandt ist, deutet jedoch eher auf eine Sonnengöttin hin.
Wahrscheinlich war sie eine Göttin des Zentralfeuers, der Heilung, Wärme und Thermalquellen. Dargestellt wurde die Göttin zumeist als stehende, ernst blickende Frau mit langen Gewändern und manchmal Attributen wie Stab oder Helm, ähnlich wie auch die römische Minerva.
Die Darstellung der Göttin Juno könnte erneut auf die Muttergottheit verweisen, mit der sie im allgemeinen gleichgesetzt wird.
Durch die Mannschaft des Britonennummerus „Nemaningensis“, dessen Standort in Obernburg vermutet wird und auch durch in Aquitanien ausgehobenen Teile der 4. aquitanischen Reiterkohorte gelangten Soldaten mit zum größten Teil keltischem Ursprung nach Obernburg. Viele werden sich als Veteranen hier im Kastellvicus als Handwerker niedergelassen und ihre keltischen Glaubensvorstellungen beibehalten und gepflegt haben. Vielleicht hat sich mit der Obernburger Jupitergigantensäule ein Beispiel für religiöse Toleranz bis in unsere Zeit erhalten.
Eva-Marie Wagner
|